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    NEUESTE BEITRÄGE

    Kinderfotos und ihre dunklen Seiten

    Das Foto, das mich sprachlos machte

    Ich habe ein Foto auf meinem Smartphone, das ich zugeschickt bekommen habe. Es zeigt einen Mann, der ein leicht waschechtes Lächeln trägt und dessen Augen weit aufgerissen sind. In seiner Hand hält er eine Schere, deren Klinge nur Millimeter von der Nabelschnur entfernt ist, die das neugeborene Kind mit seiner Frau verbindet. Diese ist halb im Bild zu sehen und ihre Beine sind zu erkennen. Ich bekomme beim Anblick dieses Bildes ein unheimliches Gefühl.

    Es handelt sich um einen guten Kumpel meines Freundes, der seinen zweiten Sohn willkommen heisst – ein unglaublich bewegender Moment. Jedoch frage ich mich, warum er dies mit seinen Freunden teilt und noch wichtiger: Warum er in diesem Moment den Drang verspürte, ein Foto zu machen? Scheinen ihm nicht tiefere Emotionen und Gedanken wichtiger zu sein?

    Ich bin der Überzeugung, dass die Ursache für dieses Verhalten in einer allgegenwärtigen Angst liegt. Eine Angst, die nicht nur mein Bekannter teilt, sondern alle Menschen betrifft, seitdem Smartphones mit integrierter Kamera zur Grundausstattung gehören. Wir fürchten uns davor, unsere wunderschönen Erlebnisse für immer zu verlieren, wenn wir sie nicht aufzeichnen. Aus diesem Grund halten wir Konzerte, Neujahrsfeuerwerke, Sonnenuntergänge, Sushi ─ und besonders gerne unsere Kinder ─ in jeder Lebenslage fest.

    Von Wurst im Ohr bis zum ersten Lachen: Unvergessliche Erinnerungen an unser Kind

    Eltern, Patentanten und Freunde der Familie halten nicht nur die besonderen Momente der Geburt fest, sondern auch die lustigen und niedlichen Aktionen der Kinder, wie zum Beispiel, wenn sie sich aus Versehen ein Stück Wurst ins Ohr stecken oder ihre Geburtstagskerzen auspusten. Besonders die ersten Male des Kindes sind beliebte Foto- und Filmmotive: Das erste Stehen, das erste Tapsern durch die Wohnung, oder das erste Mal Käse essen werden sofort festgehalten. Jeder Knips zeigt die wunderbaren Entwicklungen und unvergesslichen Erlebnisse, die das Lebens der Kinder mit sich bringen.

    „Wir können uns nicht einfach darauf verlassen, dass alles wieder so wird wie früher.“, stimmen wir uns zu und erkennen die Wahrheit darin. Doch das Dilemma liegt darin, dass Kinder bemerken und spüren, wenn jemand ständig ihr Handy vor ihren Gesichtern hält und ihnen damit angestrengt ins Gesicht schaut. Dies führt zu einem veränderten Verhalten bei den Kindern, was ich bei den Kindern meiner Freunde und Familienmitglieder beobachte. Sobald eine Kamera auf die Kinder gerichtet ist, nehmen sie posierende Haltungen ein.

    Wie ein kleines Mädchen mein iPhone eroberte und meine Kleidung zerstörte

    Vor ein paar Wochen hatte ich das Vergnügen, einen guten Freund zu besuchen, der eine entzückende eineinhalb Jahre alte Tochter hat. Während sie genüsslich Nudeln ass, konnte ich nicht widerstehen, mein iPhone auf sie zu richten. Doch die Kleine kam mir zuvor und verstand sofort, was ich wollte: Mit ihrem Schüsselchen Nudelsauce bewaffnet, vergnügte sie sich, indem sie süüüüsse Flecken in ihre fluffigen Haare schmierte. Ich war hin und weg von ihrem Charme!

    In meinem Umfeld gibt es einen jungen Verwandten von mir, der gerade einmal zehn Jahre alt ist. Dieser Junge hat ein erstaunliches Talent darin entwickelt, sein Gesicht in verschiedenen Ausdrücken und Gesten zu präsentieren, wenn ihm jemand ein Smartphone vor die Nase hält. Egal ob er mit der „Checker-Pose“ zwei Finger unter seine Unterlippe hält, das Peace-Zeichen zeigt oder auf eine ganz bestimmte Art und Weise ernst guckt – er sieht dabei immer fantastisch aus und kein Foto lässt ihn jemals unvorteilhaft aussehen. Seine Fähigkeiten erinnern ein wenig an Barney Stinson aus „How I Met Your Mother“, dessen Freunde es nie schaffen, ein schlechtes Foto von ihm zu machen. Dieser junge Verwandte ist ein echtes Naturtalent und zeigt bereits in jungen Jahren, dass er ein grosser Entertainer werden könnte.

    Wir fotografieren Kinder_01

    Fotosucht oder Kindheitsglück? Die Auswirkungen der Fotografie auf unsere Kleinen

    Die Frage nach den Auswirkungen der Fotografie auf die Psyche von Kindern wurde einer renommierten Professorin für Erziehungswissenschaft gestellt. Jutta Wiesemann gab zu bedenken, dass die permanente Selbstdarstellung zahlreiche Auswirkungen haben könnte, die unsere Vorstellung von Identität und Person beeinflussen könnten. Wissenschaftlich fundierte Aussagen über diese Thematik sind allerdings bislang nicht vorhanden.

    Die permanenten Fotosessions verändern unsere Kinder in ihrer Persönlichkeit. Frühzeitig bringen wir ihnen bei, sich selbst zu präsentieren. Doch leider trübt das den Zauber der Kindheit, denn in diesem Alter ist es noch nicht zwingend erforderlich. Als Erwachsene müssen sie sich permanent von ihrer besten Seite zeigen, sei es im Job, auf Dates oder bei den Schwiegereltern. Warum lassen wir unsere Kinder nicht einfach noch ein paar Jahre sie selbst sein? Warum halten wir nicht einfach mal die Kamera zur Seite? Beginnen wir schon bei der Geburt, indem wir kein Foto machen. Ich bin mir sicher, dass unser Kind uns später dafür danken wird. Wir sollten ihm die Chance geben, sich ohne Pose zu entfalten.

    Beziehungen prägen unser Leben: Mit Kollegen, Eltern, Partner oder sogar Drogendealern haben wir alle auf unterschiedliche Weise zu tun. Oft sind sie herausfordernd, aber niemals langweilig. Deshalb widmet sich Julia Beil in ihrer wöchentlichen Kolumne „Unter anderen“ dem zwischenmenschlichen Miteinander und gibt Einblicke in diese faszinierende Welt.

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    Eltern, Patentanten und Freunde der Familie halten nicht nur die besonderen Momente der Geburt fest, sondern auch die lustigen und niedlichen Aktionen der Kinder, wie zum Beispiel, wenn sie sich aus Versehen ein Stück Wurst ins Ohr stecken oder ihre Geburtstagskerzen auspusten. Besonders die ersten Male des Kindes sind beliebte Foto- und Filmmotive: Das erste Stehen, das erste Tapsern durch die Wohnung, oder das erste Mal Käse essen werden sofort festgehalten. Jeder Knips zeigt die wunderbaren Entwicklungen und unvergesslichen Erlebnisse, die das Lebens der Kinder mit sich bringen. "Wir können uns nicht einfach darauf verlassen, dass alles wieder so wird wie früher.", stimmen wir uns zu und erkennen die Wahrheit darin. Doch das Dilemma liegt darin, dass Kinder bemerken und spüren, wenn jemand ständig ihr Handy vor ihren Gesichtern hält und ihnen damit angestrengt ins Gesicht schaut. Dies führt zu einem veränderten Verhalten bei den Kindern, was ich bei den Kindern meiner Freunde und Familienmitglieder beobachte. Sobald eine Kamera auf die Kinder gerichtet ist, nehmen sie posierende Haltungen ein.

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    Die Frage nach den Auswirkungen der Fotografie auf die Psyche von Kindern wurde einer renommierten Professorin für Erziehungswissenschaft gestellt. Jutta Wiesemann gab zu bedenken, dass die permanente Selbstdarstellung zahlreiche Auswirkungen haben könnte, die unsere Vorstellung von Identität und Person beeinflussen könnten. Wissenschaftlich fundierte Aussagen über diese Thematik sind allerdings bislang nicht vorhanden. Die permanenten Fotosessions verändern unsere Kinder in ihrer Persönlichkeit. Frühzeitig bringen wir ihnen bei, sich selbst zu präsentieren. Doch leider trübt das den Zauber der Kindheit, denn in diesem Alter ist es noch nicht zwingend erforderlich. Als Erwachsene müssen sie sich permanent von ihrer besten Seite zeigen, sei es im Job, auf Dates oder bei den Schwiegereltern. Warum lassen wir unsere Kinder nicht einfach noch ein paar Jahre sie selbst sein? Warum halten wir nicht einfach mal die Kamera zur Seite? Beginnen wir schon bei der Geburt, indem wir kein Foto machen. Ich bin mir sicher, dass unser Kind uns später dafür danken wird. Wir sollten ihm die Chance geben, sich ohne Pose zu entfalten. Beziehungen prägen unser Leben: Mit Kollegen, Eltern, Partner oder sogar Drogendealern haben wir alle auf unterschiedliche Weise zu tun. Oft sind sie herausfordernd, aber niemals langweilig. Deshalb widmet sich Julia Beil in ihrer wöchentlichen Kolumne "Unter anderen" dem zwischenmenschlichen Miteinander und gibt Einblicke in diese faszinierende Welt.